Am Ende des Dorfes Myra in Vesterålen, direkt nach den Gestellen, die an diesem Frühlingstag im Mai noch voller Stockfisch hängen, beginnt die Straße 983. Erst noch spärlich geteert, geht sie nach wenigen Kilometern in eine holprige, buckelige Schotterpiste über. Unser Bulli schiebt sich vorsichtig über die tiefen Schlaglöcher, schaukelt, rumpelt und pumpelt im Schritttempo die enge Küstenstraße vorwärts. Links brandet die arktische See an die steinigen Klippen, rechts schroffe, unwirtliche, schneebedeckte Berge. Kaum zu glauben, dass wir hier nicht am Ende der Welt, sondern auf den Weg zu unserer Verabredung mit Jan Helge im Künstlerdorf Nyksund sind.
“Velkomin til Nyksund” – Jan Helge streckt uns seine kräftige Hand entgegen, als wir auf dem grob geschotterten Parkplatz aus unserem Bulli steigen. Von einem groben, schweren, kariertem Hemd klopft er die Sägespäne, die dort die Arbeit an seinem Lebenstraum hinterlassen haben: Seit man vor wenigen Jahren hier in Nyksund die Grundmauern eines uralten Wikinger-Langhauses entdeckt hat, wollte er es wieder aufbauen. Als gelernter Tischler werkelt er nun jeden Abend, jede Nacht, Wochenende und Feiertage an diesem Traum. Über acht Jahre hat es gedauert, aber wenn alles gut geht, kann er in diesen Sommer eröffnen. Ein Langhaus, 38 Meter lang, direkt an der wilden, rauen See soll im Café, in den Konferenzräumen und im kleinen Souvenirgeschäft Besucher und Künstler zusammenbringen. Für diesen Abend dürfen wir unseren Bulli neben das Langhaus von Jan Helge stellen und unser Nachtquartier an diesem malerischen Ort aufschlagen.
Später erzählt uns Jan Helge etwas über Nyksund: die Fischgründe vor Nyksund sind legendär. Jan Helge erinnert sich noch, wie sich früher die Fischerboote auf dem Meer tummelten. “Like a Disco” meinte er.
Als die Boote jedoch größer und der Fischfang zentralisierter wurde, verlor Nyksund zunehmend an Bedeutung. Immer mehr zogen weg aus dem kleinen Hafen, um ihr Glück woanders zu suchen. 1970 schließlich fuhr das letzte Mal der Umzugswagen die holprige Piste nach Myre. Der letzte Bewohner war gegangen und Nyksund verfiel als Geisterstadt. Einzig ein deutscher Sozialpädagoge kam in den Neunzigerjahren hierher, um mit Jugendlichen hier in der Einsamkeit zu arbeiten. Auch Jan Helge hat Nyksund und die Vesterålen mal verlassen. Als LKW-Fahrer war er wochenlang in ganz Europa unterwegs und hat norwegischen Fisch ausgeliefert.
Irgendwann im neuen Jahrtausend haben allerdings Künstler und Freigeister das kleine, verlassene Nest entdeckt. Sie zogen in die verfallenen Fischerhütten und begannen nach und nach den Ort wieder aufzubauen.
Und so sieht der Spaziergang in Nyksund auch heute noch aus. Einige der alten Fischerhütten sind heruntergekommen, verfallen und verlassen. Einige sind schick hergerichtet, belebt. Dazwischen verstecken sich Galerien, Künstlerateliers, Gästehäuser und Restaurants. Und immer noch wird gewerkelt, restauriert, Ausstellungen geplant und Boote repariert. Alles klein, ruhig und beschaulich. Die Dorfgemeinschaft ist sich einig, dass sie die Ursprünglichkeit behalten werden soll. Die Anzahl der Touristen ist begrenzt, das Wachstum des Dorfes überschaubar.
Und so passt auch Jan Helge und sein Traum vom Wikinger-Langhaus perfekt hierher. Langsam, geruhsam, Schritt für Schritt sägt, hämmert und werkelt er. Auch noch spät abends als wir schon verträumt von unserem Bulli aufs Meer, die bunten Fischhäuschen und die malerische Bucht von Nyksund blicken.