Die Sonne strahlt von einem nahezu wolkenlosen Himmel. Doch der herrliche Sonnenschein trügt. Links der tief verschneiten Straße klammern sich dicke Eiszapfen an die schroffen Felswände. Über den Porsangerfjord zu unserer Rechten pfeift ein scharfer, eiskalter Nordwind. Das Außen-Thermometer des Autos zeigt minus fünf Grad an.
Eigentlich sind wir ja mit unserem VW T4 California Exclusive “Bulli” unterwegs. In den vergangenen Wochen hat unser Bulli und wir alle Wetterkapriolen und Minusgrade hervorragend überstanden. Doch nun, an diesem tief winterlichen Maitag weit jenseits des Polarkreises und jenseits des siebzigsten Breitengrades müssen wir uns eingestehen, dass für die deutschen Winterschuhe unseres Bullis kein Vorankommen mehr ist. So haben wir uns von Frank, dem freundlichen Werkstattmeister im norwegischen Lakselv, ein geeignetes kleines, aber mit frischen Spikes ausgestattetes, griffiges Auto geborgt.
Über die arktischen Straßen gleiten wir nun also dahin. Mal für Mal weiter nördlich geht es. Immer karger wird die Landschaft. Bis zum Nordpol sind es etwas mehr als 2000 Kilometer.
Von der kargen, baumlosen, felsigen Landschaft können wir nicht genug bekommen. Hinter jeder Kurve eröffnen sich neue Blicke in kleine Buchten, unendliche Weiten und schwungvolle Täler. Die Straße schraubt sich immer weiter nach oben.
Und plötzlich haben wir es erreicht: das legendäre Nordkap.
Der Touristenmagnet schlechthin: ein riesiger gebührenpflichtiger Parkplatz, eine Restaurant, Cafés, ein Museum, Touristen-Kitsch und Souvenirs inklusive. Selbst ein Briefkasten hat sich hierher verirrt.
An diesem winterlichen, stürmischen Mai-Tag haben wir unglaubliches* Glück. Wir erreichen das Nordkap nach der regulären Öffnungszeit der Touristen-Infrastruktur und sind tatsächlich die Einzigen an diesem besonderen Ort.
Zudem versinkt das berühmte Felsplateau mit der Weltkugel nicht – wie eigentlich üblich – in dicken Nebelschwaden. Heute ist es eiskalt, der Wind zerrt an unseren Klamotten, wir spüren Hände und Gesicht kaum noch. Aber die arktische Sonne kitzelt uns an der Nasenspitze, ein paar wenige Wolken jagen im Wind über den blauen Himmel und wir lassen den Blick weit schweifen über die umliegenden Berge, das weite Meer, die schiere Unendlichkeit. Dort, dorthinten ist dann irgendwo der Nordpol.
Dass das Nordkap nicht das “Ende der Welt” ist, nicht nördlichste Punkt Europas (liegt in Spitsbergen), ja nicht mal der nördlichste Punkt Norwegens (liegt ein paar Kilometer weiter auf einer Halbinsel) – all das stört uns heute nicht.
Für viele Tage, viele Kilometer war dieser Punkt unser Leitstern. Stets nach Norden waren unsere Routen und Straßen gerichtet. Nach rund 6000 Kilometern durch Schweden, Finnland und Norwegen, durch Tundra, Taiga, Hügel, Berge und Wälder, vorbei an roten Schwedenhäusern in Småland, Rentieren in Lappland und Königskrabben in Norwegen, sind wir nun am nördlichsten Punkt unserer Reise angekommen. Weiter nördlich geht es für uns nicht. Wir stehen andächtig an den Klippen des Nordkaps. Halten inne. Genießen die Ruhe, die Einsamkeit, den Augenblick. Blicken von den hohen Klippen auf das weite Meer. Keine Insel, kein Fjord, kein See. Nur das wilde, tobende, kalte Nordpolarmeer. Hier stehen wir nun – an unserem ganz persönlichen Ende der Welt.
(* Erst später erzählen und Einheimische, welches Glück wir wirklich hatten. Die besondere Wetterlage am Nordkap ist üblicherweise von dickem Nebel geprägt. Sonnenschein und gute Sicht findet man hier nur an einigen wenigen Tagen im Jahr.)