Zugreise nach Helsinki: Tschüss, Europa!

20. September 2008
von
Lesezeit: 3 Minuten
UnterwegsBelarus scaled

Die Nacht ist unruhig und ich finde wenig Schlaf: der Zug rattert und wackelt, die Heizung lässt sich nicht regeln und bläst heiße Luft in das Abteil, Fenster kann man nicht öffnen. Außerdem ist am frühen Morgen der Grenzübertritt nach Belarus (Weißrussland) und ich habe Sorge im Tiefschlaf unsanft von einem weißrussischen Grenzer überrascht zu werden. Bei jedem Halt spitze ich aus dem Fenster, um zu erahnen, wo wir sind.

Es war wohl kurz nach 02:00 Uhr als mich dann doch die Müdigkeit und Anspannung überkommt und ich in einen tiefen Schlaf falle.Plötzlich rüttelt und klopft es an der Tür unseres Abteils. Ich schrecke auf: 03:00 Uhr. Die Tür geht auf, der Zugbegleiter ruft „Granitsa“ in unser Abteil. Das kann doch nicht schon die Grenze sein? Der Zug soll doch erst um 07:00 Uhr (also 06:00 Uhr nach der deutschen Zeit) in der Grenzstadt Brest ankommen. Die Zimmernachbarn sind alle auf den Beinen. Völlig übermüdet räumen wir unser Bettzeug beiseite und ziehen uns an. Tatsächlich fahren wir in einen Bahnhof ein und polnische Grenzpolizei kontrolliert uns. Etwa 30 Minuten später, der Zug war nur ein paar Kilometer weitergefahren, halten wir mitten in der polnisch-russischen Nacht. Nur eine kleine erleuchtete Baracke am Bahngleis. Kein Bahnsteig. Wie aus dem Nichts taucht plötzlich ein ganzes Heer weißrussischer Grenzwächter im Zug auf. Einer will unsere Pässe sehen. „Sebastian?“ – „Ja … ehh … Da!“ Strengen Blickes nickt er mir zu.“Melita?“ – „Da!“Das russische Formular, welches wir tags zuvor in die Pässe gelegt haben interessiert ihn nicht und er gibt es uns genervt zurück. Wir sollen eine – diesmal zweisprachig gestaltete – Migrationskarte ausfüllen. Die Pässe nimmt er mit und verschwindet.Uniformierte, Menschen in Anzügen und Ledermänteln gehen durch den Zug und werfen prüfende Blicke in unser Abteil. Einer nimmt dann doch noch das russische Formular mit.

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Grenzformalitäten Nachts um 3 Uhr

Nach knapp einer Stunde kommt der Pass zurück und kurz darauf rollen wir wieder. Ganz langsam, wohl nur ein paar Hundert Meter weiter an ein dunkles Gebäude. Durch das Fenster kann ich den englischen Schriftzug erkennen: „Customs“.Wieder ein paar Kontrollen, und reges Treiben im Zug, bis wir langsam weiter rollen. Die Grenzformalitäten scheinen wir überstanden zu haben.

Wenige Kilometer weiter, in einer langen Wagenhalle, findet dann eine technisch aufwendige Prozedur statt.Eine krächzende Lautsprecherstimme trommelt auf Russisch einige Arbeiter zusammen, die sich daran machen, die Drehgestelle auszutauschen, sodass wir an die russische Spurbreite angepasst werden.

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Die russischen Fahrgestelle stehen bereits bereit

Die Wagen werden dafür voneinander entkoppelt und die Drehgestelle von den Wagenkasten gelöst. Hydraulische Winden heben dann den nun radlosen Waggons samt Insassen hoch. Die „europäischen“ Fahrgestelle werden unter dem Wagen weggeschoben und stattdessen die neuen Fahrgestelle mit der russischen Spurbreite unter den Wagenkasten positioniert und verbunden.

Schlaf finden wir beide in dieser ersten Nacht an Bord des Zuges von Berlin nach St. Petersburg nichtmehr. Als wir die Werkshalle der Umspurung verlassen, setzt schon die Morgendämmerung ein. Ein paar Stunden dösen im zu warmen Abteil.

Die Landschaft hat sich mittlerweile völlig verändert. Weite ebene Flächen ohne eine noch so kleine Anhöhe. Kein Hügel, an Berge gar nicht zu denken. Kilometerweit.Der Zug rattert durch schier unendlich reichende Wälder. Vorbei an kleinen Dörfern mit bunten Holzhäuschen. Hier ein Blaues mit gelben Fensterrahmen, dort ein gelbes mit weißen Läden. Unbefestigte Straßen ziehen sich von Haus zu Haus. Hin- und wieder ein Pferdefuhrwerk oder uralte Ladas auf den Straßen.

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Farbtupfer am Wegeserand – mit dem Zug durch Belarus

Die größeren Städte – wie beispielsweise Baranovichi, was wir gegen 09:00 Uhr erreichen – unterscheiden sich völlig von den sonst so lieblichen Dörfern auf dem Land.
Heruntergekommene Fabrikhallen, riesige Plattenbauten und mehrspurige Straßen prägen hier den Blick aus dem Fenster.

Mittlerweile ist wieder Leben in unseren Zugwaggon eingekehrt. Die Türen der Abteile stehen auf, aus dem Nachbarabteil klingt das Gelächter der Schülergruppe und auf dem Gang machen sich die ersten Fahrgäste Richtung WC auf.
Das Toilettensystem im Zug ist denkbar einfach. Frischwasser wird in großen Tanks im Zug mitgeführt. Abwässer aller Art wird einfach – wie es auch in Deutschland früher üblich war – auf den Schienen hinterlassen.
Generell ist die Zugtoilette mit der in einem alten Nahverkehrszug aus Deutschland vergleichbar.

Einziger Unterschied, der mir auf dem „stillen Örtchen“ aufgefallen war, ist der Duschkopf in der Decke, über dessen Verwendung ich mich schon sehr gewundert hatte.
Die Duschutensilien, die meine Mitreisenden mit einer bewundernswerten Selbstverständlichkeit auf dem Weg zum WC unter dem Arm haben, zeigt mir, dass die Dusche also doch rege Verwendung findet. Hinsichtlich hygienischer Verhältnisse auf der Toilette und der doch teilweise sehr wackeligen Fahrweise ein bemerkenswertes Unterfangen – zumindest für mich als ungeübter Russlandreisender.

Sebastian

Reise-Enthusiast. UX Professional. Vater.

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Wir lieben es zu reisen, neue Orte zu entdecken und die verschiedenen Facetten der Welt kennenzulernen. Gemeinsam mit unseren beiden Töchtern sind wir ständig auf der Suche nach neuen Abenteuern, ob in unserer fränkischen Heimat, im Alltag oder in weiter Ferne.

Auch wenn wir als gebürtige Franken das Reisen mehr lieben, als Sauerkraut - so beschreiben wir hier unsere Erlebnisse, wenn "Krauts Vermutlich vom Sauerkraut abgeleitet, das als typisch deutsches Nationalgericht angesehen wird, ist der Begriff Kraut im Englischen eine meist stereotypisierende Bezeichnung für einen Deutschen. " die Welt bereisen.

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