Die Straße schlängelt sich durch den lichten Birkenwald. Über sanfte Hügel kurven wir mit unserem Bulli durch den Norden von finnisch Lappland. Auf der abenteuerlich geteerten Straße sind uns in der letzten Stunde zwei Autos und fünf Rentiere begegnet. Wir sind unterwegs im finnischen Rentierzuchtgebiet und wollen uns mit den Tieren etwas genauer beschäftigen.
Mitten im Nirgendwo, am Ende einer kilometerlangen, sandigen, aufgeweichten Ruckel-Piste erreichen wir das Haus von Tuula. Seit über 60 Jahren lebt sie nun hier, auf diesem wunderbaren Flecken Erde. Einen stattlichen See direkt vor der Haustüre, umgeben von den unendlichen Birkenwäldern Lapplands. Tuulas Hof sieht aus wie in einem Freilichtmuseum. Das alte, vom Wetter gegerbte Haus trotzt seit vielen Jahren den harten arktischen Wintern. Jetzt, Ende April, ist der Hof noch im tiefen Winterschlaf; Tuula wird in diesem Jahr wohl noch bis Mitte Mai auf dem See mit den Langlaufskiern ihre Runden drehen können. Tuulas Familie lebt schon immer hier. Wahrscheinlich um 1750 haben sich ihre Vorfahren hier niedergelassen. Die holprige Straße kam erst viele Hundert Jahre später. Tuula erinnert sich: “Als ich noch klein war, gab es keine Straße zu unserem Haus. Alles, was wir benötigten, mussten wir zu Fuß, auf Ski oder mit dem Schiff hierher schaffen.”
Neben Tuula leben auf dem Hof auch noch 10 Rentiere: Hillapoika, Mörkö, Maitonaama … Jedes Rentier hat hier einen Namen. “Die Tiere sind unsere Familie”, erzählt uns Tuula. Die Rentierzucht und das Leben mit den Tieren kennt sie bereits aus ihrer Kindheit. Schon ihre Eltern hatten den Hof als Rentierhof mit vielen hundert Tieren bewirtschaftet. Üblicherweise streifen die Rentiere im Sommer frei durch die Wälder, teils über weite Gebiete Lapplands. Im Herbst werden sie zur Zählung Zusammengetriebe. Damals für Tuulas Eltern ein knochenharter Job: zu Fuß oder auf Skiern legten die Rentierzüchter mehrere Hundert Kilometer in dem unwegsamen Gelände der Wälder zurück, trieben das Vieh zusammen um es später bei der Rentierscheidung seinem jeweiligen Besitzer zuzuordnen. Für Tuulas Familie endete die Rentierzucht, als ihr Vater bei der mühsamen Suche der Rentiere stürzte und dabei sein Bein verlor. Heute ist das Zusammentreiben freilich weniger gefährlich und kräfteraubend: mit Quad, Helikoptern und Snowmobiles ist man schnell bei den Tieren. Zudem sind viele der Rens heute mit GPS-Sendern ausgestattet, was die Suche deutlich erleichtert.
Seit Jahrhunderten sind die Sámi in dieser Region für ihren Lebensunterhalt weitgehend auf Rentiere, Jagd und Fischerei angewiesen. In Nordfinnland leben etwa 8000 Menschen und 70.000 Rentiere doch “Wilde Rentiere gibt es nicht mehr”, erzählt Tuula. “Inzwischen haben alle Rentiere einen Besitzer.”
Seit Tuula aber den Hof übernommen hat, hat sie sich wieder den Rentieren gewidmet. Nicht im sonderlich großen Stil, sondern ganz persönlich und vertraut. Wirtschaftliche Interessen verfolgt Tuula nicht: “Natürlich schlachten wir auch die Tiere, aber nur für unsere Familie. Vielleicht ein, zwei Tiere im Jahr. Um wirtschaftlich erfolgreich zu sein, braucht man viele Hundert Rentiere.” sagt sie.
Gemeinsam mit Tuula gehen wir raus. Jetzt am späten Abend helfen wir mit den Tieren Futter zu geben. Für Tuula ein wichtiges Ritual: “Einmal am Tag möchte ich meine Tiere sehen und wissen, dass es ihnen gut geht.” Den Tieren kommen wir dabei richtig nahe, spüren die Kraft, die in den Muskelbergen steckt, streichen kurz über das borstige Fell und hören das laute Klacken der Hufe und blicken in die blauen Rentieraugen. Tuula berichtet, dass Rentiere ihre Augenfarbe den Jahreszeiten anpassen: im Winter sind sie blau, im Sommer eher gelblich, um sich besser gegen die Sonne zu schützen.
Wir legen also das getrocknete Moos auf die Hand, strecken es ganz vorsichtig aus und schauen in das große, milchig-blaue Winterauge des Tieres. Wir stehen Hillapoika gegenüber, der uns vorsichtig begutachtet. Dass wir Futter haben, scheint eine überzeugende Wirkung zu haben, langsam kommt er näher, zupft mit seiner samtigen Schnauze ein paar Mooskrümel von der Hand und fängt genüsslich an zu kauen. Die Sonne geht hinter den Wäldern Finnlands unter, taucht den Hof und die Weide in ihr sanftes Licht und wir haben das Gefühl heute die Rentierseele ein kleines bisschen besser kennengelernt zu haben.